Julian Bischoff, 13 Jahre, MLD

Julian wurde am 24.Oktober 1990 in Achim bei Bremen geboren. Er ist mein absolutes Wunschkind. Er ist der jüngste von 3 Brüdern. André ist 25 Jahre alt und Björn 20. Julian war von Beginn an ein total hübsches Kind mit viel Charme. Er lernte recht normal laufen und sprechen. Innerhalb der Familie war er sehr behütet, ein richtiges Nesthäkchen eben. Dinge, die er nicht konnte, überspielte er mit kecken Sprüchen, die ihm durch seine großen Brüder keineswegs fremd waren. Er hatte zu beiden Brüdern von je her ein sehr inniges Verhältnis und sie waren für ihn da, wenn er sie brauchte. Ob Lego spielen mit Björn bis in die Nacht oder Star Wars mit André – das war egal. Er liebte essen bei McDonalds – eine Juniortüte war die Krönung und Überraschungseier, Chups Choyce Lollies oder Pizza bestellen. Er ging gern mit seinem Papi zum Sportplatz oder ins Kino. Die Helden um Luke Skywalker, Batman, Power Rangers oder Jurassic Parc faszinierten ihn. „König der Löwen“ begeisterte ihn so, dass er den Text auswendig konnte. Er hatte alle Spielfiguren aus dem Film. Er spielte Fußball in der G-Jugend, die André, sein großer Bruder trainierte. Er besuchte die musikalische Früherziehung in Oyten.

Aber da waren auch die Dinge, die ihm schwer fielen. Während die anderen Kinder schon Fahrrad fuhren, nahm er immer noch seinen roten Trecker, seltener sein Kettcar. Das Fahrradfahren mit Stützrädern klappte auch – aber nie ohne. Wenn es daran ging, sich anzuziehen, suchte er Auswege und sagte immer: „Du musst mir helfen“. Es passte so gar nicht zu dem sonst kecken, wortgewandten Kerlchen, aber wir glaubten immer, er will nicht groß werden. Er besuchte den Kindergarten, war aber nie ein großer Draufgänger, sondern eher zögerlich, ungeschickt. Auch das wöchentliche Montagsbild zu malen, fiel ihm schwer. Er malte schnell etwas dahin, um rasch wieder nach draußen gehen zu dürfen.

Der Kinderarzt sprach von leicht verzögerter Entwicklung und empfahl Krankengymnastik und Ergotherapie. Die Erzieherinnen im Kindergarten vermuteten genau wie ich, dass Julian sich in der Rolle des „Kleinsten“ sicher fühlte und nicht unbedingt den Drang hatte, größer zu werden. Hinzu kam im März 1997 die endgültige Trennung zwischen Julians Vater und mir. Ich habe heute noch das Gefühl, dass das noch mal einen extremen Schub bei ihm verursacht hat, auch wenn die Schulmedizin anderes behauptet. Im Mai 1997 konnte Julian bis 100 zählen, auf englisch und französisch bis 10. Bei der Einschulungsuntersuchung sollte er seine Finger zählen und kam auf 9.

Ich war mir damals nicht sicher, ob das sein Ernst war oder ein Trick, um nicht in die Schule zu müs-sen, denn auch das wäre ihm von seiner Pfiffigkeit her damals zuzutrauen gewesen. Die Schulärztin war es aber dann, die mir zu einer Kernspintomographie riet. Das war am 24. Mai 1997, am 11. Juni 1997 hatten wir den Termin, der dann unser aller Leben, aber vor allem Julians so dramatisch veränderte.

Man fragte uns nach Erbkrankheiten in der Familie und es fiel der Begriff Leukodystrophie. Ich spürte, dass unser Leben eine Richtung nahm, die ich nicht mehr beeinflussen können würde, dass das Leben mich da holen will, wo ich zu treffen bin, bei einem meiner Kinder. Kurze Zeit später waren wir stationär in der Bremer Kinderklinik, wo sich der Verdacht einer metachromatischen Leukodystrophie schnell erhärtete. Völlig blind vor Schmerz tat sich vor mir ein Tunnel auf, von dem ich damals meinte, er würde nie enden. Ich bin dann aber, um Abstand zu gewinnen mit Björn und Julian in den längst geplanten Frankreich-Urlaub gefahren, doch die ersten Zeichen der Krankheit waren schon zu erkennen. Als wir Ende Juli aus dem Urlaub kamen, war Julian inkontinent und stolperte immer mehr über seine Beinchen. Sein rechtes Bein stellte sich immer mehr nach innen. Er bekam wieder Windeln, um ihm das ständige Einnässen im Kindergarten zu ersparen. Im Oktober gingen wir nach Göttingen zu Prof. Hanefeld und Dr.Korenke zur nochmaligen Überprüfung der Diagnose, aber alles Hoffen war vergebens. Julian hat MLD.

An seinem 7. Geburtstag am 24.Oktober 97 gingen wir mit ihm zum Bremer Freimarkt, wo er früher immer so gerne Wildwasserbahn fuhr. Da saß er das erste Mal in einem – geliehenen – Rollstuhl.1/2 Jahr später im März 1998 sprach er die letzten Worte. Von dem einst so kecken Bürschchen mit Sprüchen wie „Mami, bleib locker – das wird schon wieder“ oder „Hey, Mann fahr schon, grüner wird’s nicht“ blieben nur noch die einzigen Sätze:“ Mami, ich hab Durst.“ „Mami, ich hab Hunger“ und „Mami, ich hab Dich lieb“.

Unfassbar…….


Es kam eine sehr schwere Zeit, in der Julian jegliche Nahrungsaufnahme ablehnte und immer mehr an Gewicht verlor. Er bekam Biosorb – ich wusste es damals nicht besser, aber davon spuckte er immer wieder – kein Wunder.

Schließlich war es soweit, dass er nur noch Biosorb und keine andere Nahrung mehr bekam, noch 17 kg wog und unsere Ärztin mir riet, es mit einer Sonde zu versuchen. Ich war nervlich völlig am Ende, Julian auch, aber an diesem Abend im Frühjahr 1998, als man ihm die Sonde legte, hat er wohl beschlossen, doch lieber zu essen, als sich so einen Fremdkörper gefallen zu lassen. Ich zog die Sonde am gleichen Abend und mein Kind hat zum ersten mal wieder gegessen. Wir probierten es mit pürierter Kost, Joghurts, zerdrückten Bananen usw. Unterstützung bekam ich von Julians Betreuerin, Monika, die ihn nach der Schule bis zu meinem Feierabend versorgte. Sie ließ nicht locker, ihm leckere Sachen zu kochen und ihn zu füttern, auch wenn er den Mund auch noch so zupresste. Sie hat mit ihm diskutiert und auch mal geschimpft, etwas, was ich seit Ausbruch seiner Krankheit nicht mehr konnte.

Neben dem Engagement im Myelin Projekt, wo ich mich gleich im Herbst 1997 nach Diagnosestellung einbrachte, suchte ich vor allem Möglichkeiten und Wege, Julians Fähigkeiten lange aufrecht zu erhalten. Er bekam und bekommt auch noch Hippotherapie und Kranken-Gymnastik sowie therapeutisches Schwimmen. Durch das Myelin Projekt fand Kontakt zu Familie Kettler in Bremen. Von Petra Kettler bekam ich die Adresse von Frau Lorenz aus Zwickau. Ich bekam Kontakt zu Familie Böning, Helmut Birkner, Familie Dornheim-Günther und zum Glück auch zur „Weissen Wolke“. Der Austausch untereinander war und ist sehr hilfreich. Wir probierten und probieren noch u.a. die Kräuterteemischung von Frau Lorenz, eine Vitamin-Therapie, Lebertran, Nachtkerzenöl.

Im August 1998 lernte ich meinen jetzigen Mann Thomas kennen, der einen wunderbaren Kontakt zu meinen Söhnen hat. Ich war eigentlich auf ein Leben allein mit meinen Kindern eingestellt und habe nicht im Geringsten den Wunsch gehabt, mich jemals wieder fest zubinden. Aber es gibt auch hartnäckige Exemplare, die sich nicht abwimmeln lassen und so haben wir im Mai 2002 geheiratet.

Thomas ist das Beste, was mir und den Kindern je passiert ist.

In den ersten 4 Jahren sind wir an den Wochenenden zwischen Lübeck und Oyten hin und hergependelt, dann haben wir 2002 nach unserer Heirat beschlossen, dass Thomas seinen Job aufgibt und zu uns nach Oyten zieht. Julian hat nach der schweren Enttäuschung, dass sein Vater sich völlig von ihm und seinen Brüdern abgewandt hat, einen Vater-Ersatz bekommen, der besser nicht sein kann. Ich bin sicher, dass das viel zu seiner Stabilität beigetragen hat.

Julians Ernährung ist weitestgehend umgestellt auf selbst geflocktes Getreide, Vollkornprodukte, Ge-müse, Obst. Wir haben uns eine Getreidemühle angeschafft. Julian trinkt aus einer Babyflasche und wird gefüttert. Das Essen und der Geschmack machen ihm noch Freude. Am liebsten isst er Kartoffeln mit Sauce und Fleisch und Rotkohl, also deftig.

Aber auch sein morgendliches Müsli weiß er zu schätzen und da ist einiges drin, was seinen Tagesbe-darf deckt. Julians Verdauung klappt nach der Nahrungsumstellung zum Teil wieder von allein, aber wir müssen nach wie vor auch jeden 2. Tag einen/zwei Einläufe machen. Julian isst teilweise richtig gut und das schafft sein Darm manchmal nicht allein, aber er hatte von klein auf Probleme mit dem Stuhlgang. Inzwischen ist es mir sehr wichtig, dass der größte Anteil an Flüssigkeit, den er trinkt, aus stillem, artesischem Quellwasser besteht. Zurzeit kommen wir auf ca. 800 - 1000 ml am Tag.

Allerdings haben wir in diesem Sommer zur „Capri-Sonne“ zurück gefunden. Früher gab es sie in unserem Haushalt nur in absoluten Ausnahmesituationen, weil wenig Fruchtanteil und viel Zucker. Julian trank damals schon gern die Sorte „Safari“, ich denke, weil auf der Packung ein großer Löwe abgebildet ist und er damals wie heute ein großer „König der Löwen“ – Fan ist. Nun war Thomas vor einigen Wochen bei extremer Wärme mit Julian unterwegs und hatte die Flasche vergessen. Er kaufte kurzerhand eine „Capri-Sonne“ am Kiosk und heute bin ich stolz wie Oscar, dass mein Kind mit Strohhalm aus der Packung trinkt.

Von Helmut Birkner kam vor einigen Jahren der Hinweis auf Calcium EAP. Ich habe daraufhin Kontakt zu Köhler Pharma aufgenommen und um Informationen über die Wirkung bei Leukodystrophien gebe-ten. Es gibt zwar keine Studie, dass Calcium EAP bei Leukodystrophien etwas bewirkt, aber es schadet ihm nicht. Er bekommt es jetzt seit 4 Jahren.

Nach der Diagnose in Göttingen waren wir lange nicht in stationärer Betreuung. Ich wollte auf jeden Fall möglichst Klinikaufenthalte vermeiden. Seit einigen Jahren fahren wir jedoch zu Prof. Kohlschütter nach Hamburg, um einmal im Jahr einen aktuellen Status zu haben. Prof. Kohlschütter ist immer wieder angenehm überrascht über Julians Stabilität und seinen guten Allgemeinzustand. Julian ist natürlich nicht erbaut, wenn ein Klinikaufenthalt ansteht. Doch Thomas sorgt für genügend Abwechslung. Beim letzten Mal trafen Sie auf Familie Tackmann aus Hamburg, die auch gerade da waren.

Julians Tag beginnt mit dem Wecken um 6.30, dann kommt die ungeliebte Morgenwäsche, 2-3 wöchentlich ein Einlauf, je nachdem, was er von allein geschafft hat. Das Schulfrühstück besteht meist aus seinem Müsli, weil ich da schon einiges an Vitaminen unterbringen kann und sicher sein kann, dass dieser Bedarf schon abgedeckt ist. Um 7 Uhr 30 kommt sein Schulbus und hält direkt vor unserer Tür.

Er ging 6 ˝ Jahre in die Achimer Paulsbergschule und besuchte dort eine Kooperationsklasse der Lebenshilfe VERDEN. Nach den Sommerferien stand nun der erste Wechsel an, denn Julian war als Vorkonfirmand längst nicht mehr am richtigen Platz in einer Grundschule. Um 14 Uhr 45 steht sein Schulbus wieder vor unserer Haustür. Julian geht gern in die Schule. Er braucht die Abwechslung mit den anderen Kindern, denn in seinem „Privatleben“ hat er leider nur wenig mit Kindern zu tun. Tapfer erträgt er auch die Küsse seiner Schulfreundin Lisa, die ein Foto von ihm in ihrem Zimmer hat und Julian behütet wie einen Schatz und ihn ständig betüdelt. Gemeinsam mit Sabrina, die nun auch schon seit 4/5 Jahren mit Julian in einer Klasse ist, teilt sie sich die für beide so reizvolle Aufgabe, Julian im Rolli zu schieben, in den Pausen bei ihm zu sein, ihn den anderen Mitschülern vorzustellen und darüber zu streiten, wer nun dran ist mit Julian schieben. Es ist ein kleiner Machtkampf zwischen den Damen ausgebrochen - wir hoffen, das legt sich wieder.

Er braucht den Gegensatz der deftigeren Umgangsform durch die männlichen Erzieher und Zivis. In der neuen Schule hat er allerdings außer einem Zivi nur weibliche Kräfte um sich herum. Gott sei Dank sind von 5 weiteren Mitschülern nun wenigstens 2 weitere Jungen dabei.

Geblieben ist ihm auch seine Schadenfreude, z.B. wenn jemand in der Schule ein Glas fallen lässt oder ein Mitschüler ausgeschimpft wird, kann er sich richtig freuen und laut lachen. Julian nimmt an allen Schulveranstaltungen teil, von der Disco bis zur Geister-Vorlesestunde und ist auch außerhalb seiner eigenen Klasse von den anderen Kindern anerkannt. Er ist Werder Bremen – Fan und war mit seinem Zivi aus der Schule, der ihn auch manchmal privat betreut, einige Male im Weser-Stadion. Letzten Sommer waren wir mit Julian beim Bonjovi-Konzert und im November haben Julian, seine Freundin Lisa und Thomas Tabaluga in der Stadthalle gesehen.

So positiv, wie sein Allgemeinzustand in Anbetracht der Krankheit auch ist, mag ich jedoch auch nicht die Zeiten unerwähnt lassen, in denen wir Angst um Julian haben. Die Zeiten der Infekte, die ihn völlig schlauchen und Kraft kosten, die Absencen, die er mitunter hat, bei Fieber die Krämpfe einzuordnen und mit ihm durchzustehen, ihn zu halten, zu schützen wo man kann.

Es ist gut, ihn bei uns zu haben – das Leben mit ihm ist reich, auch wenn wir nicht großartig in die Zukunft schauen mögen, sondern im Hier und Heute leben.

Regina Frerks-Steinke

>>> Bilder von Julian


zurück zu ´Lebensläufen & Bilder´